Es ist ein seltsamer Widerspruch des 20.Jahrhunderts, dass es einerseits aufgrund naturwissenschaftlicher Forschungen den Menschen rein materiell definiert, ihm eine geistige Dimension und damit eine individuelle Freiheit und Würde abspricht - und andererseits die Deklaration der Menschenrechte hervorbringt, um des Menschen Würde weltweit zu schützen. Es haben Viele die Stimme erhoben, um den Menschen zu einem reinen Resultat der Vergangenheit – Vererbung und Umwelteinflüße –zu erniedrigen. Es haben aber auch Viele die Stimme erhoben, um gerade ein darüber hinaus wirksames Drittes als das Wesentliche des Menschen zu würdigen. (Anhang 1)

Für Janusz Korczak - den polnischen Arzt, der freiwillig mit den jüdischen Kindern seines Waisenhauses in die Gaskammer ging, als er sie vor dem Zugriff der Nazis nicht mehr schützen konnte – war Kindheit nicht eine Altersangabe, sondern etwas Universelles, das jeder Mensch in sich trägt. Er hielt es für einen der schlimmsten Fehler anzunehmen, Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind und nicht die Wissenschaft vom Menschen. Seine „Kindheitsidee“ ist eine Ethik der unbedingten, bedingungslosen Würdigung der kindlichen Individualität. (Anhang 2)

Die Definition des Menschen ist keine philosophische Gedankenspielerei für Schöngeister und Müssiggänger, sie prägt unsere Gesinnung und hat reale Auswirkungen: Unser Verständnis von Kindheit, unser Verhältnis zum Kind, unser Umgang mit ihm, unser pädagogisches Wirken und die Gestaltung des kindlichen Umfeldes hängt von der Definition ab, die wir – bewußt oder unbewußt – in unseren Köpfen und in unseren Herzen tragen.


Für das Kind ist es ein spürbarer, lebensentscheidender Unterschied,

  1. ob wir es durch absichtsvolle gezielte Einflüsse von außen formen wollen, seine Kindheit planen, sein Funktionieren und seine Leistungen im System belohnen und seine Besonderheiten als „Defekte“ (notfalls sogar mit Medikamenten) auszumerzen versuchen oder

  2. ob wir es als eine individuelle, zur Freiheit begabte Persönlichkeit würdigen und ihm einen schützenden Raum der Absichtslosigkeit schaffen, in welchem es nach seinen Besonderheiten eine eigene individuelle Kindheit gestalten und in den hinein es sich selber und seine Zukunftskräfte entfalten kann. (Anhang 3)


Kommt der Mensch als ein Nichts zur Welt, um von ihr geformt und genormt zu werden und möglichst gut zu funktionieren? - oder: Kommt er als individueller Neugestalter und Mitschöpfer unserer gemeinsamen Menschheitszukunft?

Diese Frage wird im Alltag entschieden – ob bewußt oder unbewußt - von jedem Erziehenden durch jedes tägliche Handeln, durch jedes Gefühl dem Kind gegenüber, durch jede Geste, jeden Blick.



Anhang


1.Menschenbild

„Ich glaube, wir erleben einen Paradigmenwechsel. Die Menschen sind nicht länger zufrieden damit, ihre persönliche Geschichte als eine Geschichte von Kausalitäten zu sehen ... Die herrschende Psychologie ist eine Psychologie der Ableitungen – wir sind am Ende nichts anderes als ein Resultat. Das Modell, nachdem wir die meiste Zeit in diesem Jahrhundert unser Leben erklärt haben, löst sich auf. Es hat uns nicht geholfen. Ich glaube, dass der universelle, in den meisten Weltkulturen anzutreffende Mythos uns weiterhelfen kann, dass ein Kind die Welt mit einer Berufung betritt, mit einem eigenen Schicksal...“ (James Hillman)

„In dem Körper eines Menschen ist ein Geist Fleisch geworden, um auf dieser Erde zu leben .... ein Seelenleben, das früher da ist als jeder Ausdruck...“ (Maria Montessori)

„... das Erscheinen der Einzigartigkeit....“ (Martin Buber)

„Der Mensch wird ins Leben gerufen .... ein Schicksal stürmt herein .... Die Vorstellung des nach oben gerichteten Wachstums ist zu einem biographischen Klischee geworden ... Ist nicht etwas Entscheidendes aus diesem Aufstiegsmodell fortgelassen worden? - Die Niederkunft!“ (James Hillman)

„Nun stehe ich, obschon reich an erfahrener Einsicht in die Macht der Naturgesetze vor einer unbekannten Größe: dem Kind!“ (Janusz Korczak)

„Danach aber frägt man wenig: Was setzt sich fort, wenn der Mensch geboren wird?“ (R.Steiner)


2. Kindheitsidee

Würdigen wir das Kind als eine einmalige geistige Individualität, welche die Welt betritt, um sich in sie hinein zu entfalten und sie aktiv und frei mit-, um- und neu- zu gestalten, dann hat jedes Kind das Recht

  1. so zu sein wie es ist
  2. auf den heutigen Tag
  3. auf seinen eigenen Tod (also sein individuelles Schicksal)

So formulierte es Janusz Korczak.

„Wir brauchen eine vollkommen neue Sicht der Dinge, um Störungen in der Kindheit zu betrachten ... eine Psychologie der Kindheit, die die angeborene Einzigartigkeit bestätigt. - Ich ziehe es vor, den Begriff krankhaft gegen ungewöhnlich einzutauschen und das Ungewöhnliche zu dem Maßstab zu machen, an dem unser gewöhnliches Leben gemessen wird.“ (James Hillman)


3. Erziehung

„Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“ (Maria Montessori)

„Wir können das Kind lehren, seine Flügel zu benutzen, aber nicht bestimmen, wohin sie fliegen ...

Die Kinder schulden uns keine Dankbarkeit, dass wir sie erziehen! Viel mehr haben wir ihnen dankbar zu sein, dass sie sich uns anvertrauen und unser Leben mit Licht erfüllen.“ (Janusz Korczak)

„Pädagogik ist die Kunst, dem kindlichen Menschen Gelegenheit zu verschaffen, sich selbst zu erziehen.“ (Rudolf Steiner)

„Jedes Kind hat das Recht auf seinen Weg. Gibt es eine großartigere Aufgabe, als einem Kind dabei behilflich zu sein, sein ganz und gar Eigenes zu enthüllen und in die Welt hineinzutragen?“ (Henning Köhler)